Auf der Reichsagitations- und Propagandakonferenz der KPD, 1925, war
beschlossen worden, alle Medien in den Dienst des Klassenkampfes zu stellen.
Ballhause, ein junger Arbeitsloser aus einer Arbeiterfamilie, folgte diesem
Aufruf. Mit der Leica untersucht und dokumentiert er das aus dem
Gleichgewicht geratene Sozialgefüge kurz vor und nach der Machtaneignung
durch die Nazis. Er registriert in seinen Fotos einen Kriegszustand -
zwischen arm und reich, links und rechts. Er fotografiert mit versteckter
Kamera, nimmt die Portraitierten aus einer vorsichtigen Distanz und häufig
von hinten auf - aus Solidarität und Mitgefühl für die Scham der ins Elend
geratenen, zu denen er sich zählte. Von solchen Aufnahmen unterscheidet sich
seine eher inszenierte Fotoserie von 193O "Ein Tag im Leben des arbeitslosen
Schlossers Karl Döhler". In zweiundzwanzig Fotos zeigt Ballhause die Armut
und Monotonie des Alltags, aber auch die zwischenmenschlichen Beziehungen
und familären Kontakte eines Arbeitslosen, den er stellvertretend für
Millionen beobachtete. 1932 erscheint diese Fotoserie in der
sozialdemokratischen Wiener Wochenschrift "Der Kuckuck". Die Fotos sind mit
kurzen, erläuternden Texten versehen. Die von Ballhause vorgestellte
drei-köpfige Familie Döhler lebte 1932 von 64 Mark im Monat, wobei 26 Mark
Miete zu zahlen waren. Ohne ablenkende Details und falsches Pathos zeigen
Ballhauses Fotos das Antlitz einer von massenhafter Verelendung und
allgemeiner Resignation gekennzeichneten Epoche und bezeichnen somit die
Bedingungen für die Katastrophe des NS.
Weniger anonym als in Ballhauses Fotos treten die Obdach- und Arbeitslosen
in Gerald Adam Hahns Fotoserien auf. Hahn zeigt die Menschen nicht in ihrer
Umgebung und Umwelt. Das Individuum, sein Gesicht, sein Ausdruck stehen im
Zentrum seiner Aufmerksamkeit. Für Hahn sind die Penner und Stadtstreicher
Menschen mit einem persönlichen Schicksal, das sie zu meistern suchen. Der
Fotograf findet mit der Kamera den Blick des Gegenübers. Hahn streift nicht
als Chronist durch die Stadt, er sucht vielmehr den Kontakt zu den
Fotografierten, will sie und ihre Geschichte kennenlernen, und das
Persönliche im Schicksal dieser Menschen zeigen. Zu jedem Einzelnen kann er
eine Story erzählen und hat vor den Überlebensfähigkeiten dieser Menschen
große Achtung. Manche von ihnen leben schon jahrelang im Abseits. Es gehört
etwas dazu, dort zu überleben ohne rasch einzugehen. Hahn geht es um die
Würde und den Stolz, der sich in Gesichtern und Blicken spiegelt, er
versteht sich nicht als Moralist und Ankläger. Trotzdem, seine Fotos
erschrecken auch. So unterschiedlich die Personen sind, ihre Lebensläufe
sind von einem bestimmten Punkt an identisch: Immer folgte der
Arbeitslosigkeit - egal aus welchem Grund - die Obdachlosigkeit.
Arbeitslosigkeit ist in diesem Sinne - und dies gilt natürlich nicht für
alle Arbeitlosen - Auslöser für den Verlust von Wärme, Geborgenheit und
Heimat. Langzeitarbeitslosigkeit führt in die Armut. 8 % der Bevölkerung
gelten als arm, die Zahl der Armen in der ehemaligen DDR verdoppelte sich in
den beiden letzten Jahren. Armut findet in Deutschland im Reichtum statt.
Sie bedeutet Ausschluß und führt zu gesellschaftlicher Spaltung. Mit der
Umverteilung von unten nach oben läuft die BRD Gefahr demokratische
Standards einzubüßen. Solange wirtschaftliches Wachstum auf Kosten von
Sozialstaatkeit geht, riskieren wir einen sozialen Krieg mit unabsehbaren
Folgen. Der Anstieg der Obdachlosigkeit steht in einem direkten und
proportionalen Verhältnis zu Arbeitslosigkeit und Verarmung. Eine
Gesellschaft, die diesem Umstand nicht mit klaren Antworten und Konzepten
entgegentritt, wird keine Berechtigung haben sich länger als demokratisch zu
bezeichnen. Für die Renovierung und Stärkung des sozialen Systems muß eine
Kultur des Teilens und ein neuer Gesellschaftsvertrag entwickelt werden.
In unseren Pritzwalker "Maßnahmen für Langzeitarbeitslose" lernten wir einen
3Ojährigen obdachlosen Mann kennen, der früher in der Landwirtschaft
gearbeitet hatte. Auch nach dem Ende seiner "Maßnahme" besuchte er uns
öfters. Zwischenzeitlich war er in der Psychatrie und bekam anschließend ein
Zimmer im Obdachlosenheim. Dort gab es oft Streit und er hatte Schlägereien
mit üblem Ausgang. Den Sommer über campierte er deshalb in einer Höhle in
der Nähe des Pritzwalker Bismarckturms. Er trank unglaublich viel, wirkte
verwirrt und abgetreten. Tagsüber hielt er sich auf dem Pritzwalker
Marktplatz auf, paffte Zigarren, wühlte in Mülleimern und griff wahllos
Passanten an. Als er das letzte mal in unser Büro kam, konnte man ihn kaum
noch verstehen, er erzählte irgendwas von der Biene Maja und versuchte
Schlager zu singen; er zeigte stolz seinen neuen Personalausweis, ließ ihn
dann auf dem Schreibtisch liegen, als wolle er ein Zeichen seiner Existenz
hinterlassen.
Bemerkenswert war die Toleranz der anderen Kursteilnehmer gegenüber diesem
Mann. Als er zu Beginn der "Maßnahme" völlig betrunken erschien, und wir
"Dozenten" ihn nach hause - doch wo sollte das sein? - schicken wollten,
meuterte der ganze Kurs: Er könne doch seinen Rausch in unserem Tagungsraum
ausschlafen. Einige Frauen kümmerten sich dann um ihn und begleiteten ihn
regelmäßig zum Arzt, damit er seine eiternde Mittelohrentzündung behandeln
ließ.
In diesen Kursen sollten die "Dozenten" laut Curriculum des Arbeitsamtes
Vorstellungsgespräche einüben, Arbeits- und Sozialrecht lehren,
Grundbegriffe der Lagerwirtschaft - von der Gewichtsermittlung bis zur
Erläuterung von Pack- und Packhilfsmittel unterrichten - und haben dies auch
nach bestem Können getan. Die wirklichen Probleme lagen tiefer. Mal
abgesehen davon, daß niemand in dieser Gegend Speditionspacker werden
konnte, hatten die Leute einfach andere Sorgen. So besaßen manche kein Holz
zum Heizen, dort war der Sohn weggelaufen, schlagende Männer,
Räumungstermine, feuchte Wohnungen und vieles mehr brannte den Leuten auf
den Nägeln; außerdem konnten etliche nicht richtig schreiben, rechnen und
lesen, denn sie hatten auf der LPG als Traktoristen, Maurer, Melkerinnen (in
der DDR-Terminologie "Facharbeiter Zoo-Technik") und Waldarbeiter
gearbeitet, waren es nicht gewohnt stundenlang in einem Klassenraum zu
sitzen und nach drei, vier Jahren Arbeitslosigkeit oft körperlich und
seelisch krank. Also organisierten wir eine Art von gegenseitiger Hilfe,
denn alles außer Geld war vorhanden - also Zeit, technische Erfahrung und
viele Hilfsmittel, zum Beispiel Motorsägen und Bohrmaschinen. Das, was
früher tyisches DDR-Landleben ausmachte, also Nachbarschaftshilfe und
Tauschökonomie, sollte bei dem Projekt der gegenseitigen Hilfe wieder
Bedeutung bekommen, denn es war dringend nötig die Lebensqualität der
Kursteilnehmer zu verbessern; mit ihren paar Märkern Arbeitslosengeld war
nicht viel zu reißen. Diese gegenseitige Hilfe kam sehr gut an, man
reparierte in kleinen Gruppen Ställe und Schuppen, pflanzte Hecken, schnitt
gemeinsam Holz, flickte Dächer, strich Zäune, tauschte Marmelade gegen
Fisch, Obst gegen Gemüse und fühlte sich dabei ganz wohl. Nebenher
organisierten wir zuweilen Feste, ein sogenanntes "Bergfest" in der Mitte
des Kurses, einen Weihnachtsbasar, grillten, übten an Schreibmaschinen und
Computern, bastelten, malten ein lebensgroßes Gruppenbild, versuchten uns in
Holzarbeiten, spielten Theater, schrieben Gedichte, lernten ein bißchen
Englisch, spielten Volley- und Fußball, gingen ins Freibad und manchmal
Kegeln. Wir machten Ausflüge nach Berlin und Güstrow und fuhren nach Posen.
Für viele war das die erste Reise ins Ausland! All diese Veranstaltungen
organisierten die Teilnehmer selber. Außerdem war es dringend nötig Fragen
nach Systemunterschieden zwischen BRD und DDR zu diskutieren und Konflikte
innerhalb der Gruppe zu thematisieren.
Tobias Hausers Ausstellungsbeitrag - der Bronzeguß einer Kettensäge, die
anstatt des Sägeblatts stilisierte Lorbeerblätter besitzt - könnte ein
Denkmal für diese Arbeitslosen sein. Viele von ihnen haben ja früher im
Forst mit der Kettensäge in der Hand ihr Geld verdient. Hausers Arbeit mit
dem Titel "Arbiter" weist jedoch über diesen Gedanken hinaus: Arbiter ist
ein veralteter lateinischer Begriff, der soviel wie "Schiedsrichter" und
"Sachverständiger in Dingen des guten Geschmacks" bedeutet. Zudem verbindet
das Wort "Arbeit" mit dem lateinischen "arbor"(Baum) und läßt sich als
Geschäftsidee, Firmennamen und Kunstkonzept begreifen. Tobias Hauser hat
eine ganze Gruppe von Arbiter-Skulpturen hergestellt, die aus abgeänderten
Werkzeugen und Maschinen besteht. Das Arbiter-Logo auf der Säge zeigt drei
Baumstämme, die abgeschlagen über ihren Stümpfen tanzen.
Zu einem Kranz geflochtene Lorbeerblätter waren in der römischen Antike
fester Bestandteil des Siegerrituals: Ein gefangener Sklave mußte dem
siegreichen Imperator während des Festumzugs einen Lorbeerkranz über den
Kopf halten. Die Verbindung von Kettensäge und Lorbeer in Hausers
Bronzeskulptur spricht vom Ende der Arbeit und dem vielleicht friedlichen
und sogar ehrenvollen Verschmelzen entgegengesetzter Bereiche - denen von
Technik und Arbeit mit der Natur. Der Natur in ihrer omni potenz gehört nach
Hausers Auffassung jedenfalls der Siegerkranz. Dieser plastischen
Formulierung vom Ende der Arbeit durch Sieg der Natur über die Technik liegt
ein utopischer Gedanke zugrunde, der das bis heute wirksame und mittlerweile
katstrophale "Machet Euch die Erde untertan" (Genesis 1,28) negiert und
damit eine neue Vorstellungswelt betritt. Auf das Ende der Arbeit verweist
bei Hausers Skulptur ebenfalls der bronzene Ölfleck, der aus dem Motor der
Kettensäge geflossen zu sein scheint und ihre Funktionsuntüchtigkeit
verdeutlicht. Bemerkenswert ist, daß ein solcher Kommentar, der von der
Aufhebung des Antagonismus zwischen menschlicher Arbeit und Natur handelt,
sich nur in der Kunst wirklich augenfällig formulieren läßt, da sie jenseits
von Behauptungen immer konkrete Formen annimmt.
Der vom Arbeitsamt erzwungene Einführungskurs für Arbeitslose in Pritzwalk
dauerte drei Monate und konnte freiwillig um weitere neun Monate verlängert
werden. Vielen Arbeitslose gefiel das Leben und Arbeiten in den Gruppen so
gut, daß sie auch an der freiwilligen Maßnahme teilnahmen. Man wußte dann
wenigstens ein bißchen wo man hingehörte, konnte ein 6-monatiges
Berufpraktikum absolvieren und außerdem bekam man etwas mehr Geld. Am Rande
bemerkt: 5% der Bevölkerung besitzen in der BRD 4O% des Vermögens, 8% der
Bevölkerung werden als arm eingestuft. Die meisten unserer Kursteilnehmer
gehörten zur Gruppe der Armen. Manchmal kamen die Zahlungen vom Arbeitsamt
unpünktlich und bei Arbeitslosenhilfe von 6OO Mark im Monat entstanden
Engpäße, sodaß Kursteilnehmer die Fahrkarte für den Bus nicht zahlen oder am
Wochenende nichts Vernünftiges essen konnten ("Hab am Wochende nur Brot
gegessen!"). Als einmal die Überweisung für einen ganzen Teil der Gruppe
nicht eintraf, wurden unsere Leute verständlicherweise ungehalten, es
entstand eine agressive und unproduktive Stimmung. Ich schlug vor einen
offenen Brief ans Arbeitsamt zu schreiben oder eine Demo zu organisieren.
Man bat mich einen Brief zu verfaßen. Wir schrieben den Brief zusammen,
wobei ich den Protest formulierte und dem Arbeitsamt mitteilte, daß die
Arbeitslosen für den Inhalt verantwortlich seien. In den letzten Monaten
hatten wir viel über die Unterschiede zwischen DDR-Sozialismus und
BRD-Demokratie geredet - der Brief war nach unserer Meinung eine Beschwerde
mündiger Staatsbürger, die eine Antwort verdiente. Das Arbeitsamt sah das
anders, man machte mir beleidigte Vorhaltungen, die gute Arbeitsamtmosphäre
sei durch den Brief gestört. Auf die Beschwerde selber wurde nicht
eingegangen, doch wenigstens kam das Geld jetzt zügig. Trotzdem, das war der
Anfang vom Ende: Bei einer Überprüfung durch das Arbeitsamt Eberswalde fand
man bei unserem Kurs etliche Kritikpunkte, besonders monierte man die
Selbsthilfe-Aktivitäten. Der Kurs wurde einem anderen Bildungsträger, der
sich exakt an das Curriculum zu halten habe, übergeben. Zu einer Gruppe von
vier Arbeitslosen - zwei Frauen, zwei Männer - blieb der Kontakt bestehen.
Die Filmemacherin Dorothee Wenner und Helmut Höge hatten uns vor dem
"Rausschmiß" besucht, und so begannen wir anschließend einen Dokumentarfilm
über das Leben der vier Arbeitslosen zu drehen. Innerhalb eines Jahres
entstand das Video "Die Viererbande - Arbeitslosigkeit in Pritzwalk", der
von der Arbeitslosigkeit auf dem Land handelt. Schon zur Zeit der
Pritzwalker "Maßnahmen" sprach mich die Künstlerin Ulrike Grossarth an, ob
es möglich sei, mit den Pritzwalkern eine Art Workshop durchzuführen.
Terminschwierigkeiten verhinderten den Kontakt zwischen den Arbeitslosen und
Ulrike Grossarth. Sie wird während der Ausstellung "Faktor Arbeit" ein
zwei-tägiges Seminar mit einer Gruppe von interessierten Arbeitslosen
abhalten. Ziel dieser Veranstaltung ist eine bewußtere, das heißt geistige
und körperliche Erfahrung von zentralen, menschlichen Handlungen.
Theoretisch knüpft Ulrike Grossarth dabei an Hannah Arendts Begriff des
Politischen an. Hannah Arendt hat die Grundformen menschlichen Tuns mit den
Begriffen "Arbeiten", "Herstellen" und "Handeln" klassifiziert: "Arbeiten
steht dabei unter der Bedingung des Lebens, dient im Kreislauf von
Produktion und Reproduktion dem Stoffwechsel des Menschen mit der Natur.
Herstellen hingegen ist eine Tätigkeit, in der der Mensch eine eigene
Objektwelt errichtet, die der Natur entgegensteht. Insofern diese künstliche
Welt dauerhaft Bestand hat, findet der Mensch an ihr Halt gegenüber seiner
eigenen Vergänglichkeit. Handeln schließlich bildet die einzige
Grundtätigkeit, die ohne Vermittlung von Dingen, direkt zwischen den
Menschen statthat. Erst in diesem Miteinander des Handelns konstituiert sich
eine gemeinsame Welt. Erst das Handeln führt die Menschen aus dem
lebensnotwendigen Tun hinaus ins offene Feld der Möglichkeiten."(17) Erst
das Handeln - so Hannah Arendts zentrale These - begründet menschliche
Freiheit. Es ist prinzipiell kein einsames Tun, es bedarf der Sprache und
geschieht in einem zwischenmenschlichen Raum. Solches Zusammenhandeln von
Menschen - und zu diesem zählt auch das Gegenhandeln - bildet nach Hannah
Arendt die Grundlage des Politischen. Ohne vorgreifen zu wollen, werden in
dem von Ulrike Grossarth geleiteten Workshop Übungen zum Handeln
stattfinden. Die TeilnehmerInnen sollen in einem Zustand der
"Selbstvergessenheit" einen Handlungsraum schaffen, der sich durch die
Gleichzeitigkeit verschiedener Perspektiven auszeichnet. Die Last der
Darstellung, des bloßen Verkörperns, die die Personen im geometrischen und
kulturell-zivilisatorischen Raum beläßt, soll aufgehoben werden. Eines der
Ziele der Übungen ist "ein transparentes, raum-zeitliches, dauernd
vielfältiges, konkret geräuschhaftes Gebilde."(18)
Großen Raum im Leben der Pritzwalker Arbeitslosen nahm das Arbeitsamt ein.
Noch deutlicher und schärfer als in einem Arbeitsverhältnis erlebten die
Betroffenen die Abhängigkeit von dieser Verwaltung. Da mittlerweile fast der
gesamte Schriftverkehr zwischen Arbeitsämtern und den dort Versicherten vom
Zentralcomputer der Bundesanstalt für Arbeit gesteuert wird, war die
Unsicherheit oft groß, denn den amtsängstlichen Arbeitslosen leuchtete es
nur schwer ein, daß sie zuweilen innerhalb von einer Woche mehrere Schreiben
aus Nürnberg bekamen, die sich revidierten oder gar aufhoben. In Unkenntnis
der komplizierten Vorgänge einer fremden Marktwirtschaft und in Ermangelung
konkreter Gegner, wurde das Arbeitsamt schnell zum Feind Nummer 1. Dort gab
man sich redliche Mühe, hatte aber selber Probleme wegen
Umstrukturierungsprozessen und der Umstellung auf EDV, die zur Folge hatte,
daß etliche Arbeitslose ihr Geld viel zu spät und dann erst nach Protesten
bekamen. Während unserer Arbeit in Pritzwalk zog das Arbeitsamt in ein
modernes Gebäude, bekam mehr Personal, schickes Mobilar und sogar einen
Getränkeautomat und wurde neben dem Sozialamt zum zentralen Ort. Ansonsten
verödete die Innenstadt zusehens. Der Einzelhandel war gegenüber den
gigantischen Einkaufsmärkten am Stadtrand nicht konkurrenzfähig, Restaurants
und Kneipen machten dicht, Kino gabs nur einmal die Woche, sogar Autohändler
gingen Pleite und nachts herrschte auf den Straßen der kleinen Stadt die
rohe Gewalt.
Auf die Institution Arbeitsamt beziehen sich Raffael Rheinsbergs
Ausstellungsbeiträge: An der Hausfassade der NGBK
und über dem Eingang zur Ausstellungshalle hat er das Emblem des Arbeitsamts
angebracht. Dieses Logo - ein stilisiertes rotes A in einem weißen Kreis -
läßt gerade in der Kreuzberger Oranienstraße verschiedene Assoziationen
aufkommen; so bildet für Rheinsberg etwa das Anarcho-Zeichen - ein weißes A
auf schwarzem Hintergrund - einen konkreten Bezugspunkt zur Geschichte von
SO 36. Mit dem A verbindet Rheinsberg Anfang, Armut und Anarchismus; Das
Wort "Arbeit" beginnt mit A und: Wer A sagt muß auch B sagen. Das Signet des
Arbeitsamts erinnert in seiner Form an künstlerische Gestaltungen der 6O und
7Oer Jahre, und tatsächlich wurde es 1968 von der Kölner Werbefirma Acon
entwickelt. Das Logo verheißt in seiner klaren Form Modernität, Dynamik und
Optimismus und stößt, folgt man den auf- und absteigenden Balken, mitten ins
Zentrum des weißen Kreises. Was aber steht in diesem Zentrum: Arbeit oder
Arbeislosigkeit? Gleichzeitig formt der Buchstabe so etwas wie einen Weg,
ein Zelt oder Dach und wirkt außerdem wie eine nach oben gerichtete
Pfeilspitze. Der Graphiker hat sich bei diesem Entwurf etwas gedacht, er hat
ein Logo mit hohem Wiedererkennungswert entworfen, und wir alle leben,
arbeiten, stehen und fallen mittlerweile mit und unter diesem Zeichen.
Anmerkungen:
(1) Der Begriff des Werks im Kunstzusammenhang geht u.a.
auf Martin Heidegger zurück, der eine Wesensbestimmung
des Kunstwerks in Abgrenzung zum vorhandenen `Ding' und
dem vorhandenen `Zeug' andererseits vornimmt. Heidegger:
Der Ursprung des Kunstwerks, in ders., Holzwege, Frank-
furt/M. 195O. Aber schon im NS, etwa in den Goebbels-
Tagebüchern von 1934, ist der Begriff gebräuchlich und
ist noch bis in die 5Oer und 6Oer Jahre eher unreflek-
tiert Terminus der Kunstgeschichtsschreibung und -päda-
gogik, durch den ich ihn wahrscheinlich inhaliert habe.
In älteren kosmologischen Zusammenhängen verbindet sich
mit dem Werkbegriff auch der Begriff der Schöpfung, des
des Demiurgen und einer Himmelsmaschine (machina mundi).
(2) Joseph Beuys, in: SPEX-Musik zur Zeit, Köln, Sept. 1982,
Nr. 9, S. 19 f.
(3) Hierzu Oskar Negt und Alexander Kluge, in: Geschichte und
Eigensinn, "Kommentar 3: Der Begriff des Wirklichen"
äußern die Autoren:"Arbeit, die im wirklichen Verhältnis
Veränderungen hervorbringt, folgt in ihrer Bestimmtheit
und Gegenständlichkeit der Dialektik des Wirklichkeits-
verhältnisses in einer Gesellschaft. Die Abgrenzung zur
Nicht-Arbeit (von den Autoren hervorgehoben) kann also an
nichts Äußerlichem, weder an vorgestellten Zwecken noch
durch den Bereich der Tätigkeit, zuverlässig festgestellt
werden." Frankfurt/M. 1981, S. 343
(4) Ob Beuys Autos wirklich so schlimm fand, wage ich zu be-
zweifeln: Vor seinem Haus in Düsseldorf-Oberkassel habe
ich mehrfach die Beuyssche Limousine, einen metallic-
rosa farbigen Masserati, stehen gesehen. der Meister
liebte also schöne schnelle Autos!
(5) Norbert Kricke in: Die Zeit, 2O. 12. 1968
(6) Joseph Beuys, in: Niels Kummer: Spurensuche:Mensch.Beuys.
Brigitte, Januar 1988, ohne Angabe
(7) vgl. dazu Frank Gieseke, Albert Markert: Flieger, Filz
und Vaterland, eine erweiterte Beuys Biografie, Berlin
1996, S. 167
(8) ebd. S. 167
(9) ebd. S. 211
(1O)Joseph Beuys in: Sonde. Neue Christlich-Demokratische
Politik, St. Augustin, 12. Jg., Nr. 2/1979, S. 6O-66
(11)Joseph Beuys in: Götz Adriani u.a. Joseph Beuys, Köln
1973, S. 158
(12)Patrick Frey (Hrsg.) in: Das Geheimnis der Arbeit - Texte
zum Werk von Peter Fischli & David Weiss, München,
Düsseldorf 199O, S, 17
(13)U. Beck/A. Giddens, S. Lash: Reflexive Modernisierung,
eine Kontroverse, Frankfurt/Main 1996, S. 22 f.
(14)Heinz Bude (Hrsg) im Vorwort von: Deutschland spricht -
Schicksale der Neunziger, Berlin 1995, S. 8 f.
(15)Barbara Methfessel in: Arbeitsplatz Haushalt, Hrsg. von
Gerda Tornieporth, Berlin 1988, S. 55
(16)Türkisch: Schönes Bügelbrett
(17)Peter Leusch in: Der Sinn des Politischen - zur Aktuali-
tät von Hannah Arendt Denken, Höressay des Deutschland
Radios, Funkhaus Köln
(18)Ulrike Grossarth in: Beschreibung der Aktion, zu ihrer
Aktion im Theater im Turm, Frankfurt/Main, Juli 1996
Dr. Peter Funken, geb. 1954 in Heinsberg/Rhld., Autor und
Ausstellungsmacher, lebt in Berlin.
[aus dem Katalog von 'Faktor Arbeit'
26. April - 1. Juni 1997
NGBK Berlin
ISBN 3-926796-47-2
e-published with permission for non-commercial use]
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the main channel of Hybrid WorkSpace http://www.documenta.de/workspace
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