Arbeiten spielen
von Peter Funken
Künstler wollte ich werden und bewarb mich 1973 an der Kunsthochschule
Braunschweig. Durch einen Zufall - es handelte sich um eine
Verwechslungsgeschichte und ihre Folgen - landete ich im Studiengang
Werkpädagogik; das Fach wurde gerade von Niedersachsens SPD aufgewertet und
hieß nunmehr "Arbeitslehre". In einem Schulpraktikum wollten wir
Drittklässlern zeigen wie langweilig Bandarbeit ist und installierten eine
Art Fließband: Die Kinder waren so begeistert, daß sie mit dem
Fließband-Spielen garnicht mehr aufhören wollten. Nicht die Schule, die
Kunst lockte und ich begann in Aachen Kunstgeschichte zu studieren.
Lebensgefühl der späten 7Oer Jahre in der BRD: Es rumorte heftig,
Anti-AKW-Bewegung, Ton, Steine, Scherben und Hausbesetzungen. Mit dem Tod
von Meinhof und Schleyer verschwand Karl Marx aus meinem Gesichtsfeld; statt
in den Underground gingen wir zu Punkkonzerten. Das Leben sollte ein
Experiment sein, heraus kam die Gründung eines Kunstvereins ("Burtscheider
Schule"), unsäglich lange Nächte in griechischen Kneipen, Liebeskummer, ein
paar Drogenexperimente und Reisen in die Türkei: Die 7Oer Jahre erschienen
uns verrottet, es herrschte lustige Verzweiflung. Absehbar war - und Negt,
Kluge und andere wiesen darauf hin - daß es mit der Vollbeschäftigung in
Deutschland schon bald ein Ende habe, denn Automatisierung und
Elektronifizierung mußten einen immensen Strukturwandel auslösen. Mit den
daraus entstehenden ethischen und politischen Fragen und der Debatte um
Umverteilung war schon damals keine Wahl zu gewinnen.
Arbeit fand für mich nur am Rande statt. Meist ging sie mir so gut von der
Hand, daß ich sie kaum wahrnahn und sofort vergaß, was ich bei meinen
Studenten-Jobs in Fabriken und Packhöfen erlebt hatte. Einmal gründete ich
ein Unternehmen und arbeitete als selbstständiger Gärtner. Ich inserierte in
Zeitungen und packte Harke und Spaten in meinen R4. Das Geschäft florierte,
Freunde arbeiteten mit. Am Ende des Sommers waren wir braun, ich dichtete
einen Werbeslogan:
Im Sommer die Wiese
Im Winter der Schnee
Im Frühjahr die Bäume
Im Herbst die Ernté
Aber auf die Ernté hatte ich schon keine Lust mehr, beendete mein Studium
und führte Besuchergruppen durch das neue Museum in Mönchengladbach.
Zentrale Ausstellungsstücke waren die Arbeiten von Joseph Beuys aus der
Sammlung Marx, die sich heute im "Hamburger Bahnhof" befinden. Immer wurde
von den "Beuys-Arbeiten" gesprochen, der Begriff "Werk" war eher
ungebräuchlich. Unvertraut im Umgang mit Künstlern und ihren
Arbeitsmethoden, hatte ich bis dahin geglaubt, daß Künstler "Werke
schaffen", - mittlerweile, so heißt es - haben Künstler eine "Produktion".(1)
Bei Beuys erlebte ich wie eng ein Kunst- mit einem Lebensanspruch verbunden
sein sollte, einem Anspruch auf Alltag, seinem Prozeß, seiner Gestaltung und
Verbesserung. Der Beuyssche Arbeitsbegriff war seiner Theorie dermaßen
immanent, daß er kaum besonders betont werden mußte. Er war - so glaubte ich
damals - in Material und Aktion zugegen und passierte immerwährend. Wenn
Beuys äußerte, "mein Begriff von Plastik bezog sich immer auf das Leben...
Dann ist man selbstverständlich raus aus der Ideologie von `visual arts',
die sich nur auf den Sehsinn bezieht, sondern man bezieht sich auf alle
Sinne, die ja aktiv sind in der Tätigkeit der Menschen, ihrer Arbeit"(2), so
verbrauchte und erneuerte sich der Kunstbegriff im Arbeitsbegriff und
umgekehrt. Auf die Dauer würde die Arbeit - glaubte man Beuys - zur Kunst,
und Kunst zum Eigentlichen, der Arbeit.(3) Unter Kunst und Arbeit schien er
aber auch etwas merkwürdig Rückwärtsgewandtes zu verstehen. Co-Professor
Norbert Kricke kritisiert Anachronistisches bei Beuys wenn er 1968,
anläßlich des sogenannten "Akademiestreits" schreibt: "...Angst scheint
seine Triebkraft zu sein, sie sitzt tief und überall bei ihm: Technik ist
böse, heute ist böse, Autos sind schrecklich (4), Computer unmenschlich,
Fernseher auch, Raketen sind furchtbar, Atome gespalten zerrütten die Welt.
Flucht in das Gestern, Besserung der Menschen, Sehnsucht nach
rückwärts....".(5) Wenn Beuys sagte, "die Kunst ist nach meiner Meinung die
einzige evolutionäre Kraft. Das heißt, nur aus der Kreativität des Menschen
heraus können sich die Verhältnisse ändern"(6), so wurde damit ein
idealistisches Verständnis von Zukunft umschrieben, denn selbst in den 6Oer
und 7Oer Jahren waren Technisierungsprozesse in Industrie und Wissenschaft
schon so komplex ausgeprägt, daß die Vorstellung einer allein an den fünf
Sinnen des Menschen orientierten zukünftigen Arbeitswelt vielleicht
wünschenswert erschien, aber kaum mehr als ein romantisches Rückzugsgefecht
verstanden werden konnte - wenn auch mit immensem Erfolg auf dem Kunstmarkt
und von äußerster Publizität gekrönt. Kreativität - zentraler Begriff der
Beuysschen Lehre - sollte in der von ihm 1974 gegründeten Freien
Internationalen Hochschule (FIU) erforscht und entwickelt werden, um dazu
beizutragen einen organischen Kreislauf zwischen Wirtschaft und Kultur zu
evozieren, und um Kapitalismus und Entfremdung zu beseitigen. Die Betriebe
der Zukunft müßten zu Kultursteppen werden, weil Arbeiter den Sinn ihrer
Tätigkeit erkennen würden. Dann könne endlich jeder seine Tätigkeit sinnvoll
in den sozialen Gesamtorganismus eingliedern.(7) "Der idealisierte Kunst-
und Kreativitätsbegriff der FIU" - so Frank Gieseke und Albert Markert in
ihrer "erweiterten" Beuys Biographie - "basiert auf der These, daß Kunst gut
ist, deshalb ist Kreativität gut, und Gutes produziert Gutes. Sind also die
Menschen kreativ, sind sie gut, und sind die Menschen gut, wird die Welt
gut".(8) Beuys' erklärtes Ziel war ein utopischer Sozialismus, den er 1977
auf der dokumenta 6 anhand seines Beitrags "Honigpumpe am Arbeitsplatz"
vorführte. Als Modell für seine gesellschaftliche Utopie diente ihm der
Bienenstaat. Dem Begriff des Kapitals kommt bei diesem Modell zentrale
Bedeutung zu. Anders als in der marxistischen Ökonomie, definiert Beuys
"Kapital" als das, was der Arbeiter als Arbeitskraft und Fähigkeit bei der
Produktion einbringt. Mit dem Kapital ist nicht das Können von einzelnen
oder Gruppen gemeint, sondern die Spiritualität von Individuen und Völkern:
"Diese entfaltet sich in der mythisch-biologisch und geographisch gefundenen
Kultur, mit Sprache als gemeinschaftsbildendem Element."(9)
Nach der Beuysschen Lehre verfügen unterschiedliche Völker über
unterschiedliche Fähigkeiten. Der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit,
Unternehmern und Arbeitern ist für ihn "ideologiebedingter Betrug".(1O)
Jeder Mensch solle seinen Beitrag nach seinem Können einbringen an der
Stelle, an der er stehe. Eine solch angestrebte Ordnung weist zwangsläufig
jedem Menschen seinen (Arbeits)platz zu, Interessengegensätze ordnen sich
dem Wohl des Ganzen, dem "sozialen Organismus" unter. Vergleicht man das
Beuyssche Gesellschaftsmodell mit Theorien nationalistischer Herkunft, so
wirkt die Nähe zu den Theorien des rechten Lagers zuweilen erschreckend. Als
konkrete Arbeit gegen den oben genannten "ideologiebedingten Betrug" läßt
sich Beuys'Aktion "Ausfegen" begreifen, die am 1. Mai 1972 im Anschluß an
die Mai-Demonstration am Karl-Marx-Platz in Berlin Neukölln stattfand:
"Damit wollte ich klar machen", so Beuys," daß auch die ideologiefixierte
Orientierung der Demonstranten ausgefegt werden muß, nämlich das, was als
Diktatur des Proletariats auf den Transparenten verkündet wurde."(11)
Ohne den dogmatisch marxistischen Gruppen nachträglich das Wort reden zu
wollen, kommt man bei einer Betrachtung der Beuysschen Lehre nicht umhin,
dieser selber einen gehörigen Grad an Dogmatik und neu-rechter Ideologie zu
bescheinigen, die keiner weiteren kunstwissenschaftlichen und musealen
Nobilitierung, sondern einer kritischen Bewußtmachung im Sinne eines
"Ausfegens" bedarf. Schamane Beuys agierte als Medienkünstler, bediente sich
der Film- und Videotechnik, nutzte TV, Radio und moderne Printmedien zur
Verbreitung seines Gesellschaftsprogramms und stand dabei auf eine deutsch-
romantische Weise der dynamisch fortschreitenden Arbeitsteiligkeit in einer
zunehmend technisierten Wirklichkeit feindlich gegenüber - fast schon ein
umgedrehter MacLuhan -, einer, der mit dem Sturzkampfbomber in die Gefilde
von Archaik, Mythen und Biologistik zurückfliegen wollte.
Im Winter `83 zog ich nach Berlin; nicht wegen einer Arbeitsstelle - ich
wollte selber entscheiden, wo meine Zukunft liegt. Ich meldete mich
arbeitslos. Der Sachbearbeiter meinte, mit meiner Ausbildung solle man
besser "etwas im Rücken haben, vielleicht eine kleine Brauerei!". Hatte ich
aber nicht. Der Hinweis zielte dennoch ins Schwarze, denn ohne
Kneipenbekanntschaften und Gasthausbesuche während dieses Jahres ohne Erwerb
wäre mein Leben viel einsamer gewesen. Bei der späteren Arbeit mit
Langzeitarbeitslosen im brandenburgischen Pritzwalk sah ich den Unterschied:
Hier hatten die Arbeitslosen nicht einmal das Geld, um in die Kneipe zu
gehen, betranken sich stattdessen einsam und hoffnungslos vor dem Fernseher.
Was bleibt übrig, wenn es keine Utopie mehr gibt? Nur noch Arbeitslosigkeit
und Armut, Reichtum für wenige, Betrug und Geld, ähnlich wie im Dialog
zwischen Bär und Ratte in Fischlis und Weiss' Film "Der geringste
Widerstand": "Gibt es Arbeit?" fragte der Bär. "Nein, Geld", antwortet die
Ratte, und auf den Einwand des Bärs "Wie denn?", fragte sich die Ratte
selbst: "Mit...Betrug?...In der Kunstwelt...Wir kassieren grausam und
machen's wie die anderen. Nur viel besser. Davon verstehen wir zwar nichts,
aber das wird sich ändern...Wir machen ein Bildungsreisli."(12)
Fakt ist, die Produktivität schafft die Arbeit ab. Oder aber gibt es in
einem zukünftigen Zeitalter jenseits von Moderne und Industriegesellschaft
eine neue Lebenskunst, neue Wege des Zusammenseins, des Handelns, Kreierens
und Verteilens?
Der Soziologe Ulrich Beck beschreibt die gegenwärtige Situation: "Wir
trauern über die zunehmende Arbeitslosigkeit trotz wirtschaftlichen
Aufschwungs, wagen aber nicht zu prognostizieren, wie sich das
Selbstverständnis einer Erwerbsarbeitsgesellschaft, der die Erwerbsarbeit
ausgeht, ändern muß; wie jenseits der Erwerbsarbeit soziale Sicherheit,
Identität, ja Demokratie ganz allgemein möglich werden. Das heißt: Alle
Änderungen müssen im Denken, mit der Arbeit am Begriff, beginnen. Es gilt,
der ersten Moderne - mit ihrem Schwergewicht auf Industrie, Nationalstaat,
Klassen, Männer- Frauenrollen, Kleinfamilie, Technikglauben,
wissenschaftlichem Wahrheitsmonopol etc. - die Konturen einer zweiten
Moderne gegenüberzustellen, für die wir erst begrifflich sensibel werden
müssen, also Konzepte, Kontroversen brauchen."(13)
Wie gelangt man in eine zweite Moderne, in der Selbstbestimmung, globales
Denken, Pragmatismus, Lust an Experimenten und ein exakteres Wissen um
Wissen und Nichtwissen vorherrschen? Gewiß ist mein Blick auf diese Dinge
durch Erfahrungen meiner Generation mitbestimmt.
Konzepte und Kontroversen - sollte man nicht erwarten, daß dies eine Domäne
von Künstlerinnen und Künstlern ist? Ohne von der Kunst einen Heilsweg oder
finale Antworten zu erwarten, könnte man vermuten, daß sich viele Künstler
besser und schneller auf unwägbare Situationen einlassen , daß in der Kunst
Ansätze - und seien es nur tastende - zu einer Neudefinition der Situation
verborgen sind, denn in ihr finden sich - trotz berechtigter Skepsis -
immer wieder Punktierungen und radikale Infragestellungen des Gegebenen, des
als "normal" Hingenommenen, wie auch Vorformulierungen und Ansätze von
Parallelem, Alternativem und Potentiellem.
Wie reagieren Künstler auf eine Situation, die von verfestigter
Massenarbeitslosigkeit und gesellschaftlicher Stagnation geprägt ist, in der
der Glaube an Fortschritt und Wachstum unhaltbar wird, die Kosten der
Nebenfolgen kaum noch bezahlbar sind, eine globale ökologische Katastrophe
stattfindet und im Bereich der Gentechnik fast alles vorstellbar ist? Welche
ästhetischen Fragen und Lösungen stellen sich ein, wenn die großen Entwürfe
zu Makulatur geworden sind, und die Chöre des "anything goes" verklungen
sind? Mit den Begriffen der 8Oer Jahren wie "life-style" oder "event" lassen
sich die 9Oer nicht mehr definieren.
"Wer heute noch auf Erlebnissteigerung, Lebensstilverfeinerung und
Risikotoleranz setzt, hat die Zeichen der Zeit nicht verstanden. Man ist
nüchterner, bescheidener und ängstlicher geworden. Das hängt mit einer
weitverbreiteten latenten Statuspanik zusammen", meint der Soziologe Heinz
Bude: "Es kann im Prinzip jeden treffen: den Manager genauso wie die
Friseuse...So bildet sich untergründig das Bewußtsein, daß im Spiel um
Ressourcen und Rechte drei Positionen existieren: Verlierer, Gewinner und,
was das Schlimmste ist, Überflüssige...Was in stabilen Zeiten als Risiko
genossen werden konnte, droht im Gefühl gestörter Erwartungssicherheiten zum
Schicksal zu werden. Schicksal ist eine Kategorie der neunziger Jahre."(14)
Schicksal sehr vieler Künstler ist ihr Einzelkämpfertum, ihre durch Akademie
(Tradition), Markt und Medien (1.Moderne) antrainierte und abverlangte
einzelgängerische Erfolgsorientiertheit. Man kann sich der Situation
marktgerecht aussetzen und anpaßen oder durch Schrullen entziehen. So oder
so reagiert der größere Teil der Künstlerschaft und der größte Teil der
heute plusminus 4Ojährigen. Man kann aber auch - und so zeigt es eine junge
Generation von Künstlerinnen und Künstlern - durch offene und subversive
Bündnisse auf die Anforderungen von Markt und Karriere reagieren. Die UTV
Wochenschau "Vom Tag der Arbeit zum Frühlingserwachen", vereint 51 kurze
Videobeiträge zum 1. Mai 1996 aus 16 Städten in 7 Ländern, die bei der
Veranstaltung "Ökonomiese machen" in Köln gezeigt wurde, ist ein Beispiel
für einen kritischen, respektlosen und hedonistischen Umgang mit der zur
Disposition stehenden Künstlerrolle.
Eine individuelle Lösung - auch um dem harten Schicksal des
Überflüßigwerdens zu entrinnen - hat der in Hamburger lebende Torsten
Haake-Brandt entwickelt. Haake-Brandt bewarb sich als Künstler auf etliche
ausgeschriebene Stellen, sei es als Hochbauamtsleiter oder Generalintendant
eines Stadttheaters. Ausgangspunkt für die Bewerbungen war - so Haake-Brandt
- "sein Schrei nach Kommunikation und `Voll-Kontakt', sozusagen eine in der
bildenden Kunst völlig neue, durch Unzufriedenheit und Langeweile
entstandene Form der grenzüberschreitenden Mitteilung". Die
Ablehnungsschreiben verhehlen die durch die Bewerbungen ausgelöste
Irritation nur selten. Doch es geht auch um anderes: Mit den Bewerbungen
hinterfragt Haake-Brandt den Stellenwert seines Berufstands und schraubt mit
dem Negativ-Material (den Absagen) den eigenen Status auf ein
höchstmögliches Niveau. Schließlich fand Haake-Brandt eine Tätigkeit als
Nachtwächter im Hamburger Interconti-Hotel und verspürte den Drang die
Langweile und Unausgefülltheit der "toten" Arbeitszeit sinnvoll - das heißt
auf künstlerische Weise - zu nutzen. Er begann mit der Produktion von
Kugelschreiberzeichnungen, die immer den gleichen, halbautomatisch
hergestellten Kringel abbilden. Langeweile, Ausdruckswille und Disziplin
halfen hunderte Blätter von großer (Un)Ähnlichkeit hervorzubringen.
Andererseits tut Haake-Brandt damit bewußt genau das, was man von jedem
Bandarbeiter, nicht aber vom Künstler erwartet: Immer das Gleiche, immer so
ähnlich. Die Stupidität der Arbeit erschuf eine Kunst der Meditation und gab
der Alltäglichkeit des Nichtstuns eine künstlerische Form. Haake-Brandt, der
sich als "Zwangsschaffender in Sachen Kunst" sieht, experimentierte weiter
im Bereich der Restzeitforschung: "Faule Säcke! Nutzt Eure Freizeit! Kaut
auf Gegenständen!" fordert er seit 1995. Damals kaute er beim Nachdenken
erstmals bewußt auf Bleistiften. Da diese aber schon bald den Geist
aufgaben, begann er an anderen hölzernen Dingen, so einem Vogelhäuschen,
einem Tischtennisschläger, Thermometern, Kleiderbügeln und neuerdings sogar
an hölzernen Überlandleitungen zu kauen. Ein Künstler beißt sich durch!
Viele Stunden Restzeit, die noch nicht künstlerisch fruchtbar gemacht worden
sind, bietet die Nacht, und so begann Haake-Brandt mit der Produktion von
Bildern, die "im Schlaf gemacht" sind. Dazu steckt der Künstler ein Blatt
Papier und diverse Filzstifte in eine Plastiktüte und legt diese in sein
Bett, um darauf zu schlafen. Da die Stifte nachts auf dem Papier auslaufen,
kann er am nächsten Morgen ein farbenprächtiges - wenn auch zerknittertes -
Bild auspacken.
Die Arbeiten Torsten Haake-Brandts besitzen absurden Witz und
Kompromisslosigkeit, die nötig sind, um dem künstlerischen Arbeits- und
Rollenverständnis auf den Zahn zu fühlen. Seine Projekte und Objekte
persiflieren in bewußter Regression das noch heute wirksame bürgerliche
Ideal, Künstler würden nicht arbeiten, sondern genialisch schaffen.
In den Arbeiten der Züricher Künstlerin Pascale Wiedemann haben die Dinge
ihr Gleichgewicht verloren. Desillusioniert, doch nicht humorlos, schaut
Wiedemann auf zeitgenössische Tätigkeitsbereiche, wie Prothetik, Genetik,
Pornographie oder Eugenik. Manchmal geht sie den Dingen rabiat an den Leib,
so etwa bei der 1994 entstandenen Arbeit "Tierwelt", wenn sie 18O
aufziehbaren Plüschtieren das Fell abzieht, und die glatten Plastikkreaturen
durch den Ausstellungsraum kriechen läßt. Die Felle der Tiere hängen als
übergroße Trophäe an der Wand. Weiterhin schuf Pascale Wiedemann eine Serie
von Fotomontagen, die das mittelalterliche Thema der "Sieben Todsünden"
aktualisiert, und eine Bildserie von "Selbstportraits": In Kunstharz
gegossene eigene Kleidungsstücke nehmen dabei den Charakter von Reliquien
an. Dieser Vorgang läßt sich auch als Akt persönlicher Musealisierung - doch
im Sinne von Einsargen - verstehen. Für die Züricher Ausstellung "Arbeit,
fertig los" (1995), die die Arbeitslosigkeit in der Schweiz zum Thema hatte,
fertigte Pascale Wiedemann eine Kukucksuhr an, bei der statt des Vögelchens
ein Stempel ansagt, was die Stunde geschlagen hat. Ihre in Berlin
ausgestellte Videoinstallation "heimlich"(1996) befaßt sich mit Fragen von
Wahrnehmung und Bedeutung und erkundet auf skurrile Weise auch eine
spezielle Form von Rest- und Freizeit: Das Fernsehgucken bei gleichzeitigem
Stricken! Stricken ist eine hochproduktive Beschäftigung, ein auch in der
letzten Dekade des 2O. Jahrhunderts nicht zu unterschätzendes
Massenphänomen, das von zahllosen Frauen betrieben wird, dem
Musikantenstadel (Karl Moik) die Einschaltquoten sichert und dabei
Gesamtstrickarbeiten hervorgebracht haben dürfte, die leicht mehrfach von
der Erde bis zum Mond und zurück reichen. Pascale Wiedemanns
Ausstellungsbeitrag besteht aus einem bunt eingestrickten Fernsehmonitor,
dessen Strickhülle über 8 Meter lang ist. Das Video, das im Inneren des
absurd langen Strickobjekts gefilmt wurde, zeigt eine Fahrt durch das
Strickobjekt. Zu einer völlig losgelösten Musik entsteht eine
naiv-psychedelische Bildwelt, die genau das Gegenteil der langweiligen
Strick- und Fernsehabende spießiger Tanten zu assoziieren veranlaßt. Daß die
(Fernseh)Welt bunt ist war mir bekannt, doch wie sich aus der Tristess des
eher monotonen Zeittotschlagens - und um solches handelt es sich oft bei
ausgeprägter Strickwut - angenehem verrückte Eindrücke filtern lassen, war
mir bisher unbekannt.
"Stricken in der Not" hieß das Motto vieler Frauen in den Pritzwalker
Arbeitslosen-Projekten, die sich und ihre Umwelt Knäul für Knäul in einen
Kokon aus weicher Wolle
einstrickten, bis sie in unseren Kursen auf die Seidenmalerei stießen. Hier
entwickelten sie eine Art Farbfuror, bemalten Taschentücher, Schawls und
Krawatten. Das ließ nach einiger Zeit nach, und sie hingen wieder an der
Nadel. Seit dieser Zeit ist mein Haushalt um etliche Topflappen reicher, und
ich besitze einen knalligen Seidenschlips. Der Bereich der Hausarbeit ist
insgesamt hochinteressant, man denke nur an begriffliche Einteilungen wie
"Arbeitszimmer" (für Väter), "Spielzimmer" und das "Reich der Frau", die Küche.
1988 schreibt Barbara Methfessel: "Es sind immer noch die Frauen, die -
unabhängig von der Erwerbsarbeit - die Hausarbeit leisten, während für die
(Ehe-)Männer der Haushalt tat-sächlich überwiegend Freizeit-, Konsum- und
Beziehungsraum ist."(15)
Das ist bestimmt richtig. Doch abgesehen davon, daß seit 1988 immer weniger
Frauen im aushäusigen Arbeitsprozeß stehen, hat der oben beschriebene
Sachverhalt auch damit zu tuen, daß viele Frauen auf diesen ganzen
Haushaltskomplex keinen spielerischen, sondern einen kritischen Blick haben
und "Einmischung" nur bis zu einem bestimmten Punkt dulden. Es muß da schon
immer so aussehen, wie sie es gerne hätten. Dieser kritische Blick kann aber
auch zu einem liebevollen werden: Das erlebte ich neulich, als ich ein neues
Bügelbrett kaufte und nach hause trug. Soviele Frauen haben mich noch nie
angeschaut. Ich konnte ihre Gedanke lesen: "Hmmm, neues Bügelbrett, schön!"
Sogar ältere Türkinnen sahen mich - "Güzel Ütü Masàsi" (16) - an. Hier
liegt also eine Art weiblicher Kennerschaft vor, die es einem Mann unter
Umständen nicht gerade einfach macht ebenbürtiger "Küchenpartner" zu werden.
Soziale Wirklichkeit zweier Dekaden - der 3Oer und der 9Oer Jahre - ist das
Thema der Fotoarbeiten von Walter Ballhause und Gerald Adam Hahn. Obgleich
zwischen den Fotos von Ballhause und Hahn mehr als 6O Jahre liegen, so haben
sich doch beide Künstler mit dem gleichen, unverändert aktuellen Thema
befaßt: Mit der Existenz von Randgruppen. Sind es bei Walter Ballhause die
Arbeitslosen der späten Weimarer Republik, alte Menschen, Tagelöhner,
Kriegsopfer und Invalide, so hat Gerald Adam Hahn seit Beginn der 9Oer
Arbeits- und Obdachlose, Drogenabhängige und Prostituierte fotografiert.
Doch unterscheiden sich die Fotografen durch ihren Standort, durch die
gewählte Beziehung zu den Portraitierten grundlegend. Walter Ballhause, 1911
in Hameln/Weser geboren, fotografierte Massenelend und politischen Umbruch
in Hannover, er hätte ähnliche Szenen genauso in Berlin oder Leipzig
aufnehmen können. 198O, am Ende seines Lebens, meinte Ballhause über seine
Arbeit: "Ich habe mich nicht in der Nähe der Unterdrückten herumgetrieben,
um auf schamlose Art etwas zu erbeuten. Ich brauchte den Unterdrückten nicht
über die Schulter zu schauen, da ich selbst einer von Ihnen war, aus ihrem
Milieu kam."
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the main channel of Hybrid WorkSpace http://www.documenta.de/workspace
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