Seit dem Beginn der achtziger Jahre arbeitet Matt Mullican an einer großen, geschichteten metaphysischen Konstruktion. Obwohl diese mentale Konstruktion einer urbanen Struktur ähnlich ist, da sie über den Umweg des fiktiven Modells einer Stadt beschrieben ist, war sie dennoch nie dazu gedacht, realisiert zu werden. Es sei denn in einem zusammenfassenden Bild, und zwar in Form von Plänen, Zeichnungen oder einem hypertextuellen Verlauf wie in seinem Projekt für die Website der documenta X. Das Modell der Stadt von Mullican, das mehr als Kosmologie denn als Utopie geplant wurde, basiert auf einem enzyklopädischen Vokabular von Bildern und Zeichen, die an die Piktogramme für öffentliche Plätze wie Flughäfen oder auf Straßen erinnern. Dieses Vokabular besteht aus poetischen, symbolischen Merkmalen, die sich der Künstler ausdenkt (ein Spiel mit konzentrischen Kreisen hat nicht die Bedeutung einer Zielscheibe oder aller Zielscheiben, sondern eines ganz bestimmten Ziels: des Paradieses ("heaven")). Außerdem ist sein Zeichensystem in fünf Farben unterteilt, von denen jede einzelne etwas ganz Genaues bedeutet: Rot entspricht dem "Subjective" ("pure meaning"), Schwarz der "Language" ("signs and symbols"), Gelb dem, was er "World Framed" nennt, ("a microcosm of the whole"), Blau der "World Unframed" ("close to the world in which we exist") und Grün den "Elements" ("nature and raw").

Up to 625, sein Projekt für die documenta X, funktioniert nach einer Struktur, deren fünf Farben der Schlüssel für den Zutritt sind. Über eine baumartige Verzweigung gibt ein erstes Bild mit fünf Farben Zutritt zu weiteren fünf Bildern, die wiederum den Zutritt zu 25 Bildern ermöglichen, und so weiter, bis man bei einer Gesamtheit von 625 Bildern angelangt ist. Je nach Vorgehensweise des Besuchers wird er immer tiefer in die Struktur selbst vordringen und so Zugriff auf immer konkretere Dinge haben. Die globale und abstrakte Sichtweise am Anfang tritt Schritt für Schritt ihren Platz an konkretere, ganz bestimmte Objekte ab, während gleichzeitig ihre Lokalisierung immer unklarer wird. Da man auf die Bilder nur über einen verästelten Weg Zugriff hat, haben die 625 Bilder der untersten Schicht alle einen intimeren Wert. Um sie alle zu sehen, müßte man systematisch von einem Niveau zum anderen auf- und absteigen und alle Wege erforschen.

In dieser Beziehung benutzt Matt Mullican alle hypertextuellen Möglichkeiten des Netzes. Der Besucher wird dazu gebracht, sich rasch und behende in der Struktur und den Bildern der Website zu bewegen. Er soll sich in der Website genauso verhalten wie in einer urbanen Struktur und mit den Bildern genauso umgehen wie mit den Dingen innerhalb einer solchen Struktur.

Simon Lamunière

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