Eklektische Atlanten
Distanz und Chaos Von Stefano Boeri Die Satelliten haben eine Grundüberzeugung der Architektur und der Urbanistik ins Wanken gebracht: daß es, um mehr vom Territorium zu verstehen, notwendig sei, mehr vom Territorium zu sehen. Durch die Vervielfachung der Satelliten-Aufnahmen können wir heute große Ausschnitte des Raumes auf kleine, synthetische Bilder reduziert sehen; und wir sehen auch "mehr Zeit" als früher: "Live"-Bilder, Bild-Folgen, nach Jahreszeiten angeordnete Bild-Serien, Nachtbilder. Dank der Infrarot-Aufnahmen sind wir endlich auch in der Lage, einige der vitalen Verhaltensweisen der Menschen zu sehen, die von der traditionellen Topographie nicht erfaßt werden können: die Verkehrsverläufe, die großen Massenkonzentrationen, die saisonbedingten Migrationen. Unsere Augen haben sich einen Blickwinkel erobert, den die Luft-Photogrammetrie und die thematische Karthographie niemals anzubieten vermochten - sie konnten ihn allenfalls künstlich herstellen. So ist es uns schließlich auch gelungen, den zur Momentaufnahme erstarrten Zustand der europäischen Metropolen zu sehen. Und dieser Zustand erschien uns plötzlich nicht mehr wiedererkennbar zu sein: viele der großen urbanisierten Gebiete (London, Madrid, Mailand, Athen, die Konurbation Amsterdam-Den Haag-Rotterdam) wirkten wie amorphe, bizarre Gebilde ohne klare Grenze zwischen Stadt und Land, ohne ersichtliches Zentrum und ohne deutliche Unterscheidung der einzelnen Teile voneinander. Da erschienen nicht mehr die großen, kompakten, genau umrissenen Konurbationen, die wir internalisiert hatten, sondern undefinierbare, ausufernde, über das Territorium versprengte Einheiten. Diese Konfrontation mit dem verwandelten Bild der von uns bewohnten Städte hat die Euphorie über die technische Errungenschaft der Satellitenfotos unversehens in ein erkenntnistheoretisches Trauma umschlagen lassen. Angesichts der Auflösung dessen, was einst als Grenze der Stadtviertel an der Peripherie galt und sich heute in einem Konglomerat von Bauobjekten ausfranst, die sich auf dem gesamten Gebiet der früheren campagna ausbreiteten und disharmonisch an den großen Kommunikationstraßen entlangschlängeln; in Anbetracht der in verschwommenen Außenbezirken versinkenden externen Stadtzentren und des von einem unregelmäßigen Netz bebauter Linien zerstückelten offenen Raumes haben wir auf Anhieb begriffen, daß die Bilder, mit denen auch weiterhin die Geographie unseres Territoriums dargestellt wurde, ausgedient haben, ebenso wie die starren Binärbegriffe, mit denen sie bezeichnet wurden: Zentrum/Peripherie, Stadt/Land, innen/außen etc. Die Demokratisierung der mächtigen Technologie zur Beobachtung des Territoriums hat den paradoxen Effekt, daß sich in den Disziplinen, die den bewohnten Raum erforschen, ein Gefühl der Machtlosigkeit breitmacht. Um die aktuellen urbanen Phänomene zu beschreiben, haben die aufmerksamsten Forscher oft die "chaotische" Natur des Territoriums beschwören müssen und die Unmöglichkeit benannt, daraus eine Darstellung zu entwickeln. Die Rhetorik des Chaos wurde durch die Innovationen der Technik des Sehens hevorgebracht, die uns mit verblüffenden und zugleich beunruhigenden Bildern konfrontieren; sie sind mit den Begriffen unserer Enzykloädie und den Worten unseres Vokabulars nicht zu dechiffrieren: "Megalopolen", "urbaner Nebelfleck", "diffuse Stadt", "Dispersionsstadt", "Habitat von geringer Dichte", das sind einige der Neologismen, mit denen wir mühsam versucht haben, die chaotische Größe zu benennen, die wir zwar endlich sehen, jedoch nicht erklären konnten. So haben die Satelliten den Traum einer globalen Vision real werden lassen und ihn zugleich lächerlich gemacht: Wir haben sie ins All geschickt, um etwas zu sehen. Doch mit dem, was wir nun zu sehen bekommen, wissen wir nichts anzufangen, vielleicht, weil der Beobachtungspunkt, den wir ihnen zugewiesen haben, einem impliziten Kodex entstammt, der mit den Kodices der Dinge nichts gemein hat, die auf den Bildern zu sehen sind. Zenitale Anmaßung Dabei hätte es genügt, irgendeine der großen Straßen abzufahren, die aus unseren Städten hinaus- oder in sie hineinführen, um zu erkennen, wie sehr sich das europäische Territorium in den letzten fünfzehn Jahren verändert hat: quantitativ, aber vor allem auch qualitativ. Als neue Qualität würden uns nicht so sehr große Hochhauskonstruktionen, neue Stadtviertel, Infrastrukturen (Straßen, Viadukte, Gleise, Tunnel) ins Auge fallen, sondern vor allem riesige Ansammlungen bunt zusammengewürfelter Einzelgebäude: kleine Einfamilienhäuser, Lagerhallen, Einkaufszentren, Wohnhäuser, Schuppen, Werkstätten. Ein beschränktes Sortiment meist völlig wahllos auf engem Raum zusammengedrängter Bautypen, die wir überall antreffen. Anspruchslose Bauwerke, die dennoch Wert darauf legen, sich von ihrer Umgebung abzuheben; verstreute, heterogene Gebäudegruppen als Ausdruck kleiner Fragmente unserer Gesellschaft (der Familie, des Kleinunternehmens, des Betriebes, des Geschäfts, des Clubs etc.), die sich ganz bewußt von dem Grund und Boden, auf den sie gebaut wurden, und aus seinem Bezugssystem gelöst haben. Unter den gleichgültigen Augen der Politik und der kultivierten Architektur hat ein Konglomerat isolierter Bauobjekte innerhalb weniger Jahre unser Territorium im wahrsten Sinne des Wortes umgewälzt. Es hat sich an den Straßen entlang und an den Rändern der kompakten Stadt ausgebreitet und dabei weit auseinanderliegende urbane Zentren miteinander vereinigt. Es ist die Abhänge hinuntergekrochen und bis zu den Flüssen und Meeren vorgedrungen. Das durch diese ungestüme Welle individueller und unkoordinierter Eruptionen verursachte ästhetische Chaos erforderte eine Erklärung. Wir haben sie gesucht, indem wir die kleinsten Einheiten zu beschreiben versuchten, die Ursprünge, die Entwicklung, die versteckten Gesetzmäßigkeiten der neuen, aus einer Vielzahl solitärer Objekte zusammengesetzten Stadt. Doch dieser strapaziöse Versuch einer Beschreibung (der nichts weiter als einige traurige Musterkollektionen zeitgenössischen urbanen Kitsches hervorgebracht hat) ist häufig in einer veralteten Diskurs-Anordnung steckengeblieben: in der der zenitalen Morphologie, wo nur den Figuren Sinn zugeordnet wird, die sich durch eine vollendete Form und innerhalb einer sichtbaren zweidimensionalen Oberfläche auszudrücken wissen. Sie setzt eine starke "Distanzierung" zwischen Beobachter und Territorium voraus, so als ob dieses Abstandnehmen eine notwendige Voraussetzung sei, um Erscheinungen des Territoriums zu begreifen; so wird die subjektive Dimension des Betrachters auf eine unpersönliche, außerhalb seines Beobachtungsfeldes liegende Größe reduziert. Tatsache ist, daß der Kodex der zenitalen Vision ein störrisches und anmaßendes Paradigma ist mit der Tendenz, andere zu annullieren. Es interpretiert als Chaos, daß die lokalen Kodices nicht kleizukriegen sind. Doch das ist nicht alles: das zenitale Paradigma ist auch trügerisch, denn es verführt den Beobachter dazu, vom Territorium "Abstand zu nehmen" und sich der Illusion hinzugeben, er verfüge über denselben unpersönlichen Blickpunkt wie die Darstellungstechnik, die er benutzt. Es ist ein heuchlerisches Paradigma, denn es flieht seine Verantwortung; es zeigt uns die Oberfläche des Territoriums von weitem und behauptet dennoch unverdrossen, die Gesetze und die Regeln der darauf erscheinenden Phänomene seien anderswo zu suchen, nämlich hinter oder "unter" dem sichtbaren Raum: in der Ökonomie, in der Gesellschaft, in den darunterliegenden Tiefenstrukturen. Dennoch, aus der Rhetorik des Chaos werden wir nicht herauskommen, wenn wir die zenitale Darstellung der neuen "diffusen Stadt" lediglich durch einige der Gesellschaft oder den ökonomischen und institutionellen Beziehungen innerhalb des Territoriums entliehene Beschreibungen anreichern. Wenn wir die verschiedenen Darstellungen des Territoriums übereinanderlegen, als sei letzteres eine Schichtung von flachen Ebenen, werden wir nie zum Wesen des bewohnten Raumes in seiner heutigen Form vorstoßen: zu den vertikalen, mobilen Energien, den physischen und psychischen Übergängen, die in ihm ihre Wurzeln haben. Statt dessen würden wir thematische "Karten" aufeinanderschichten, die überquellen von sehr ordentlich aufgelisteten, aber völlig unnützen Informationen, mit denen es nicht möglich ist das mehrdimensionale, dynamische Wesen der urbanen Phänomene zu beschreiben. Bei der mühevollen Suche nach unsichtbaren und unterirdischen Strukturen, durch die man den auf der Oberfläche des Territoriums sichtbaren Phänomenen eine Ordnung geben könnte, haben wir die Tatsache vernachlässigt, daß das Territorium heute zum einen durch Spannungen zwischen dem Raum und der Gesellschaft gestaltet wird, die sich nicht innerhalb des Kodexes der zenitalen Morphologie äußern; und zum anderen durch Formen, die häufig genau das sind, was sie scheinen und die auch nicht den Anspruch erheben, irgendetwas anderes zu sein als das was sie scheinen. Mit einem Wort: Um das Chaos zu erklären, reicht ein in den visuellen Medien potentes, aber in den Kodices der Interpretation schwaches Paradigma nicht aus, weil wir von ihm nicht verlangen können, ein Problem zu lösen, welches es selbst hervorgebracht hat. Das laterale Denken Zum Glück entwickelt sich hinter dem Rücken der großen visuellen Potenz des strukturalistischen und "zenitalen" Paradigmas seit einigen Jahren eine - wenn auch noch minoritäre - skeptische Position. Von der Überzeugung ausgehend, daß die Stadt nicht nur eine Schichtung von "Realitätsebenen" ist, sondern auch ein kollektiver Modus, den Raum zu konzipieren; überzeugt auch, daß jedes Entwicklungsstadium der Stadt implizit einen "Sprung" in seinen Darstellungsformen mit sich bringt, ja sogar notwendig macht, versucht eine Minderheit, das Paradigma durch kleine Sabotageaktionen zu stören und es auf diese Weise zu bekämpfen. So als ob sie von den Schultern des Giganten herab ihm kontinuierlich Steinchen in die Augen werfe. So ist man in einigen Teilen Europas dabei, "eklektische Atlanten" zu produzieren, in denen neue Methoden zur Erforschung der Korrespondenzen von Raum und Gesellschaft vorgeschlagen werden. Es sind heterogene Texte (Programme, Photo-Kampagnen, geographische und literarische Beschreibungen, Klassifizierungen, Forschungsberichte, qualitative Untersuchungen, Essays und Artikel, anthologische und monographische Publikationen, Anlagen von Projektplänen etc.), die sich in der Sichtweise aber ähneln. Es sind tendenziell "Atlanten", weil sie neue logische Entsprechungen suchen zwischen den Dingen des Raums, den Worten, mit denen wir diese benennnen, und den mentalen Bildern, die wir von ihnen projizieren. Und sie sind tendenziell "eklektisch", weil die Kriterien, auf die sich diese Entsprechungen stützen, häufig mehrdimensional, fiktiv und experimentell sind. Diesem Sammelsurium von Studien und Recherchen liegt die Auffassung zugrunde, daß das Chaos nicht die Widerspiegelung einer äußeren Phänomenologie sei, sondern vielmehr sich darin eine Ermüdungserscheinung der Konzeptionen vom Territorium ausdrückt. In der Regel versucht man mit den eklektischen Atlanten, Darstellungen "von mehreren Zugängen" aus zu konstruieren und kontrapunktisch mit dem dominanten Paradigma zu spielen. Es wir dabei nicht frontal attackiert, sondern von der Seite: man bewegt sich gleichzeitig auf den physischen und den mentalen Raum zu, weil man an das Vorhandensein von tiefen Zusammenhängen zwischen den Formen der Betrachtung und den Formen der gesehenen Dinge glaubt. Die bewohnten Territorien Europas werden unter die Lupe genommen und dabei wird versucht, die vielfältigen individuellen, lokalen Kodices herauszufinden, die den Beobachter jedes Mal mit den beobachteten Phänomenen verbinden: die physische Stadt, ihre Bewohner und die "innere Stadt" desjenigen, der sie beobachtet. Unentschieden gegenüber solchen Theorien, die Geschichte als lineare Progression betrachten, werden mit den eklektischen Atlanten vielfältige "Formen" benutzt, um den Verlauf der Zeit im Territorium darzustellen. So entwickelt man ungewöhnliche und gleichzeitig provisorische Pläne, in denen das Territorium nicht als beständige mineralische Struktur oder als Überlagerung von dauerhaften "Zuständen" gezeigt wird, sondern als ein Geflecht von verschlungenen, mehrdimensionalen, reversiblen und niemals gleichaltrigen Formen. Den eklektischen Atlanten ist eine Skepsis gegenüber dem unpersönlichen und synoptischen Blick eigen; vielmehr wird versucht, bei der Betrachung des Territoriums mehrere Blickwinkel gleichzeitig zu einzunehmen: von oben, aber auch indem man sich den Blickwinkel derjenigen aneignet, die den Raum selbst bewohnen, oder auch, indem man mit neuen, unvoreingenommenen Perspektiven experimentiert. Ihnen geht es vor allem darum, die Subjektivität des realen Beobachters (wir, die wir die Landschaft und ihre Darstellungen betrachten) und die Trugbilder der Subjektivität auseinanderzuhalten, die in die Technologie der Darstellung eingeschrieben sind. Eklektische Atlanten fußen auf der festen Überzeugung, daß unsere Identität auf jeden Fall bereits vor der Betrachtung, "außerhalb" des Schauplatzes unseres Blickes da ist. Die eklektischen Atlanten, die sehr geschickt mehrere Blickwinkel miteinander verknüpfen, führen also ein plurales visuelles Denken vor, das die Utopie einer Globalansicht von einem optimalen Beobachtungsstandort aus hinter sich gelassen hat. Das interessanteste Charakteristikum der Atlanten ist, daß sie mit ihrem Beobachtungsfeld zu sympathisieren scheinen, wenn sie einen eklektischen Blick einsetzen, um ein eklektisches Territorium zu betrachten. Betrachtungsweisen Auf nicht systematische Weise experimentieren die eklektischen Atlanten mit "lateralen" Betrachtungs- und Darstellungsweisen für das Territorium der europäischen Stadt. Und diese scheinen mit einer Reihe von wichtigen methodischen (und damit inhaltlichen) Veränderungen bei den "Themen des Blickes" auf das Territorium zu konvergieren. Eine erste Veränderung impliziert die starke physische Wiederannäherung des Beobachters an sein Beobachtungsfeld. Es ist die Aufforderung, mit unserem Körper in den bewohnten Raum einzutreten, um dort direkt nach den Spuren der neuen Lebensstile zu suchen; das "Kleine" aufzuspüren, um mehr zu sehen. Hinter der offensichtlichen Homologation der von uns frequentierten Territorien (wo immer wir hingehen, wir finden immer dieselben neuartigen Gebäudetypen: Einkaufszentren, Autobahnraststätten, Wohnhäuser, Einfamilienhäuser etc.) verborgen gibt es zum Beispiel zahlreiche Hinweise auf Wohnformen, die sehr auf die Betonung einer lokalen Identität bedacht sind, die sich in den Falten des Raumes ansiedeln und ihn damit tendentiell privatisieren. Sie hinterlassen unbeständige, vieldeutige, provisorische Spuren, die nur durch einen sensiblen, einen bis zu den Wurzeln vordringenden, detektivischen Blick erkennbar sind; einen Blick, der lokale Karten, punktuelle Bodenproben, "Biographien" von Orten hervorbringt. Der die Erzählung eines individuellen Weges im Raum hervorbringt und nicht die Darstellung dazu benutzt, Abstand vom Territorium zu gewinnen (siehe Box 1). Eine zweite von den eklektischen Atlanten angeregte Veränderung legt nahe, uns auf das zu konzentrieren, was sich zwischen dem Raum und der Gesellschaft abspielt und was die Karten normalerweise verbergen: die Wandlung des physischen Territoriums. Um den Raum zu sehen, während er sich verändert, muß das zenitale Paradigma "demontiert" werden, ohne daß wir jedoch dabei auf seine Potenz verzichten. Man muß versuchen, es zu personalisieren, indem man die Territorien der europäischen Städte von oben, aber schräg betrachtet und dabei den kodifizierten Blickwinkel einer Axonometrie mit der poetischen Willkür einer Perspektive vereinigt. Bei einer schrägen Ansicht zeigt das bebaute Territorium nämlich sein Alter und seine Fragmentierung. Wir können dann sogar die kleinen individuellen und unkoordinierten Eruptionen in Aktion sehen, von denen es gestaltet wird und die dort ihre "Spur" hinterlassen. Die urbanen Phänomene kommen uns nicht mehr wie Abziehbilder vor, sondern sie sind als "volle" Entwicklungsprozesse erkennbar, die sich zwischen dem Raum und der Gesellschaft bewegen und dabei Prinzipien folgen, die von der bidimensionalen Geometrie nicht beachtet werden und die für Satellitenbilder und topographische Karten nicht dechiffrierbar sind (siehe Box 2). Eine dritte Veränderung führt dazu, die synoptischen Karten der Stadt um die dreidimensionalen Sektionen des urbanisierten Territoriums zu ergänzen. Heute ist die tatsächliche Dimension der Stadt nicht mehr gesichert und mit geometrischen Instrumenten auch nicht mehr meßbar. Der hohe Mobilitätsgrad der Individuen und das Entstehen von vielen neuen zentralen Orten außerhalb der traditionellen Städte (man braucht nur an die großen, rezeptiv ausgerichteten Freizeit- und Einkaufszentren zu denken) haben den genetischen Code der Stadt auch in die Gebiete mit geringer Baudichte exportiert; Urbanität ist eine potentielle Qualität aller Orte geworden, nicht mehr eine Eigenschaft, die nur von der Nähe zu Gebäudekomplexen oder ihrer geographischen Nachbarschaft abhängt. Statt also Karten zu entwerfen mit dem Risiko, daß sie das Areal einer Stadt auf der Grundlage eines (historischen oder juristischen) Trugbildes nur approximativ oder völlig willkürlich konturieren, ist es besser, einen präzisen Blick auf das Territorium zu werfen, um seine verschiedenen Urbanitätsgrade festzustellen, und zwar nicht so sehr zur Bestimmung der Grenzen des Blickfeldes, sondern um Längsschnitte des bewohnten Territoriums herzustellen und diese verschiedenen Raum-"Streifen" miteinander zu konfrontieren. Denn nur durch rigorose und vergleichbare Sondierungsoperationen können wir hoffen, dessen habhaft zu werden, was wir nicht mehr sehen (siehe Box 3). Schließlich bezieht eine vierte von den eklektischen Atlanten vorgeschlagene Veränderung ganz direkt die Flexibilität unseres Blickwinkels als Städter ein, unsere Gewohnheit nämlich, im Laufe ein und desselben Tages nacheinander in alle die vielfältigen Identitäten zu schlüpfen, die wir potentiell in uns haben: demselben Raum gegenüber sind wir nämlich einmal zerstreute Pendler, ein anderes Mal neugierige Liebhaber, wieder ein anderes Mal Gelegenheitstouristen oder ständige Besucher. Häufig identifizieren wir verschiedene, selbst weit voneinander entfernte Räume miteinander - zum Beispiel ein Einkaufszentrum mit einer touristisch aufgemachten Altstadt - nur, weil wir auf diese dieselben Bedeutungs-Codes projizieren (die "Schranke" des Parkhauses, der abgeschlossene Innenraum, die Geräuschkulisse der Kaufhauskorridore). In anderen Fällen dagegen erscheinen uns durchaus ähnliche, nahe beieinanderliegende Räume nicht vergleichbar (ein Villenviertel und eine Ansiedlung von Werkstätten) nur, weil wir sie innerhalb ganz verschiedener Wahrnehmungssequenzen frequentieren (siehe Box 4). Viele Orte der zeitgenössischen Stadt sind nur dechiffrierbar, wenn man die Sequenzen der urbanen Landschaften berücksichtigt, innerhalb derer sie erprobt, in eine Folge gestellt und auf dieselbe Wellenlänge gebracht werden. Im übrigen ist unser Status als Städter immer weniger durch die geographische Situierung unserer Wohnung als durch die "Montage" von Orten charakterisiert, die wir in der erratischen Alltagserfahrung mit dem Territorium herstellen. Zusammenfassend kann man sagen, daß anhand der Karten, die bei ihrer Produktion diese vier "Seiten"-Blicke miteinander verbinden, das Territorium während seines Wandlungsprozesses beobachten, weil sie davon ausgehen, daß viele der komplexen Spannungen, die den Raum an die Gesellschaft binden und die Bewohner an die Orte, während dieses Wandlungsprozesses Form und "Gewicht" annehmen. Auf der Oberfläche des Raumes werden Spuren und Hinweise gesucht, die auf häufig unsichtbare, unbeständige, provisorische Wohnformen schließen lassen. Die Karten sind programmatisch unvollständige, eklektische Karten, weil in ihnen das Interesse zum Ausdruck kommt, eine plurale Interpretation der zeitgenössischen europäischen Stadt zu liefern, die nach ihrer Lesart nicht chaotisch ist, sondern vielmehr zwei Phänomene zu reflektieren hat, die ihre Interpretation so schwierig macht. Das erste ist die Invasion einer Vielfalt von vereinzelten, aber massiert auftretenden Bauobjekten, die sich über den ganzen bewohnten Raum ausgebreitet und in seinen Falten eingenistet haben. Sie haben dabei neue Landschaften geschaffen und den Sinn der bereits existierenden modifiziert. Diese urbanen Standards entstehen häufig durch die Nachbildung eines verinnerlichten Modells - das Einfamilienhaus in der Mitte der Parzelle, das vom Parkplatz umgebene Einkaufszentrum, der historische Stadtkern mit Fußgängerzone - anstatt durch eine spezifische Deklination einer Tradition des Bauens oder von in der lokalen Geschichte verwurzelten Kommunikationspraktiken. Aus diesem Grunde wird es immer schwieriger, das Territorium in Bereiche aufzuteilen, die durch Form, vorherrschende Wohnweisen, symbolische Werte klar voneinander abzugrenzen sind. Die "Grammatik" der neuen Stadt besteht eher aus einer Vielzahl von elementaren Aussagen, nicht aber aus artikulierten, unterscheidbaren Sätzen. Das zweite Phänomen, das wir mit Hilfe der eklektischen Atlanten erkennen können, ist die Wiederholung einer begrenzten Zahl von Kompositionsformeln für eine Vielzahl von solitären Fragmenten innerhalb der kompakten Stadt und über sie hinaus: das Viertel mit Einfamilienhäusern, das umzäunte Industriegebiet, das Feriendorf. Sie spiegeln die wenigen, einfachen Interaktionsbewegungen zwischen denen, die an der Konstruktion unseres Territoriums mitwirken und den in Subsystemen organisierten Gruppen der Gesellschaft, "Minderheiten", die wie autopoietische Mikowelten operieren (die Familie, ethnische und Berufsgruppen, Verbände). Auch wenn sie sich überlagern, geschieht zwischen diesen dynamischen Strukturen kein Austausch; sie wiederholen sich, ohne sich zu vermischen. Sie fügen sich ganz einfach einem Territorium an, das bereits übervoll ist von Spuren und Symbolen verschwundener oder ererbter Wohnformen. Die "Syntax" der neuen Stadt besteht im großen und ganzen aus wenigen Regeln, die aber eine Vielzahl von Formulierungen zu organisieren haben. Es ist eine im Laufe der Zeit verarmte Sprache, die nur einen kleinen Teil ihres reichhaltigen Alphabetes benutzt, den aber ständig wiederholt. Während uns die Satelliten in ununterbrochener Folge zweidimensionale Bilder des ästhetischen Chaos senden, in denen sich die Stadt des 20. Jahrhunderts spiegelt, erreichen uns von einigen Punkten des bewohnten Raumes weniger anmaßende Bilder, die aber reich an Informationen sind. Indem sie aufzeichnen, was sich zwischen dem Raum und der Gesellschaft ereignet, zeigen sie uns ein Territorium, in welchem wenige repetitive Regeln die Explosionen auf dem Bausektor steuern, die demgemäß auch nichts hervorbringen, was "von oben" noch zu sehen wäre. Das Kaleidoskop ist zur besten Metapher geworden für die Darstellung des gebauten Raumes einer Gesellschaft, die sich durch nicht miteinander kommunizierende, introvertierte Mikrokosmen organisiert. Wenn es stimmt, daß das vom optischen Blickwinkel her unpersönliche und anmaßende zenitale Paradigma die Koordinaten festgelegt hat, nach denen der urbane Raum des 20. Jahrhunderts zu denken sei, erscheint es uns notwendig, wieder zu lernen, wie die zeitgenössische Stadt zu sehen ist. Und wir sollten damit beginnen, indem wir wieder lernen, uns selbst in ihr zu sehen, als Individuum oder als Gruppe. |